Transformation im internationalen Handel — politischer Aufbruch oder Debakel?
Von Helena Peltonen-Gassmann
Es war Mitte November 2019, als der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler in einer Grundsatzrede zur Eröffnung eines Nachhaltigkeitskongresses in Hamburg sagte: „Kein Land kann sich mehr gegen die Folgen von extremen Ungleichheiten, Klimawandel, Epidemien, Kriegen oder Flüchtlingskatastrophe abschotten.“ Nur anderthalb Monate später nahm die Corona-Pandemie in Wuhan ihren Anfang und erschüttert seitdem die Welt.
Durch die Globalisierung waren die am Handel teilnehmenden Staaten zur Spezialisierung gezwungen, sonst hätten sie auf den internationalen Märkten nicht bestanden. So verschwanden Gewerbe und Industrien, die im lokalen oder nationalen Rahmen gute Dienste geleistet und der Bevölkerung einen Unterhalt geboten hatten, aber in Konkurrenz mit industriell stärkeren oder billigeren ausländischen Anbietern nicht bestehen konnten. Es gab Gewinner und Verlierer. Aus deutscher Sicht bieten die Textil- und die Automobilindustrie anschauliche Beispiele für beides. Diese Spezialisierung folgt der Wirtschaftstheorie David Ricardos, in der die Finanzmärkte noch gar nicht vorkamen. Zahlreiche Staaten leiden unter den entstandenen Monokulturen sowohl der Industrie als auch der Landwirtschaft, was sie in einer Krise verwundbar macht. Ein Hochschrauben der Staatsverschuldung, auch in bereits hochverschuldeten Staaten ist unvermeidbar. Für dringend benötigte Produkte und knappe Güter fließt viel Geld. Für Korruption sind diese Ausnahmebedingungen besonders förderlich.
Während die Gesellschaften viel Kraft benötigen, um das Virus zu bekämpfen, müssen sie wie die Wirtschaft darüber nachdenken, wie sie aus diesem Tief wieder herauskommen. Zum ersten Mal seit langem macht die Politik die Erfahrung, dass sie mit Mut gestalten kann. Dieser Mut wird für die Gestaltung des Wiederhochfahrens nach der Corona-Pandemie benötigt. Der Schutz wichtiger Wirtschaftszweige, der bisher schnell den Stempel des Protektionismus bekam, ist auch hierzulande wieder salonfähig. Nicht erst Corona, sondern bereits der wirtschaftliche Aufstieg Chinas und die unberechenbare Außenpolitik des jetzigen Präsidenten der USA zeigten dieses Umdenken. Das Recht, sich vor Stärkeren zu schützen, nehmen die Entwicklungsländer verstärkt für sich in Anspruch.
Unsere gemeinsamen Prinzipien, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Grundlage eines friedlichen Miteinanders entwickelt wurden, sind menschenbezogen. Menschenrechte, Arbeitnehmerschutz, Gesundheit und Umwelt sowie Korruptionsbekämpfung sind in völkerrechtlichen Abkommen, Konventionen und Deklarationen der Vereinten Nationen manifestiert, innerhalb der EU in den Europäischen Verträgen.
Diese Prinzipien werden jedoch nicht als handelsbezogene Anliegen betrachtet und ihre Einhaltung in internationalen Investitions- und Handelsabkommen weder von der Welthandelsorganisation (WTO) noch von der EU durchgesetzt. Internationaler Handel ist ein Paralleluniversum neben den Vereinten Nationen. So fehlen bis heute — mit Ausnahme von Mexiko — Antikorruptionsklauseln in den EU-Investitions- und Handelsabkommen, obwohl die EU-Kommission dies bereits im Jahr 2015 angekündigt hatte und viele der Partnerländer in anderen Verträgen solche Klauseln unterzeichnet haben. Eine EU-Richtlinie zur Durchsetzung von Sorgfaltspflichten internationaler Unternehmen in ihren Lieferketten wäre dringend erforderlich.
Wenn wir den Frieden erhalten und mit Klimawandel, Hungersnöten und Migration fertig werden wollen, werden Investitionen und Handel eine ganz andere Rolle übernehmen müssen als bisher. Internationale Wettbewerbsfähigkeit wird auch daran gemessen, ob ein nachvollziehbarer Beitrag zur Lösung der globalen Probleme mit Verantwortung und Anstand erbracht wird. Qualifizierte Nachwuchskräfte werden nur Aufgaben mit Sinn annehmen, egal ob in Unternehmen, Behörden oder Zivilgesellschaft. Köhler drückte es so aus: „Die Transformation wird kommen als politischer Aufbruch oder politisches Debakel — by design or by desaster.“
Helena Peltonen-Gassmann ist Stellvertretende Vorsitzende von Transparency Deutschland und im Führungskreis für das Thema „Freihandelsabkommen“ zuständig.