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Rezension

Kurt G. Blüchel: Heilen verboten, töten erlaubt. Die organisierte Kriminalität im Gesundheitswesen.

Bertelsmann, München, 2003; 416 S. 22,90 €

Schaurig mutet diese Geschichte an, die in Deutschland spielt: wo einst das Mekka der Medizin blühte, gedeiht bis heute ein Monstrum von Medizinbetrieb. Es ist eine Geschichte von viel Geld und von skrupelloser Geschäftemacherei, die Kurt Blüchel erzählt, von Verschwörungen und Mafiabossen, von Mord und Totschlag. "Heilen verboten, Töten erlaubt", so provozierend der Titel, so dramatisch ist auch die Lektüre dieses kritischen Portraits der Geschichte und gegenwärtigen Lage des bundesdeutschen Gesundheitswesens. Blüchel, der viele Jahre als Medizinjournalist in Pharmaindustrie, Ärzteverbänden und anderen Bereichen des Gesundheitswesens tätig war, dokumentiert in seinem neuen Buch brisante Fakten und Zahlen über den drohenden Kollaps unseres Gesundheitswesens. Bis heute profitieren Übeltäter vom Glanz und Ruhm längst vergangener Zeiten nach dem Motto: "Das deutsche Gesundheitswesen ist das beste der Welt!" Dabei klafft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ein riesiger Abgrund. Tatsache ist, dass in Deutschland im Vergleich zum restlichen Europa am meisten Geld in das System "Gesundheit" gesteckt wird, während aber qualitativ nur mittelmäßige Ergebnisse vorliegen. Unser Gesundheitswesen bietet zwar die meisten Leistungen an, faktisch aber sind Patienten in anderen Ländern besser dran: in Holland, Schweden oder Dänemark z.B. gibt es durchschnittlich weniger Arztbesuche, eine geringere Säuglingssterblichkeit und eine höhere Lebenserwartung.

Blüchels grundlegende Absicht ist es, die Systemfehler unseres Gesundheitswesens herauszustellen. Sie sind struktureller Art und reichen noch zurück in die Zeit des Nationalsozialismus. Die Ursachen für die heute höchst komplexe Problematik betreffen fast alle Ebenen des Systems. Machtmissbrauch und Betrug spielen dabei eine große Rolle. Im Kreis der Hauptverantwortlichen können nach Blüchel mindestens drei Parteien identifiziert werden: das sind zunächst Vertreter der ärztlichen Standesorganisationen, die aus der Macht unkontrollierter Selbstverwaltung heraus und mithilfe intransparenter Strukturen und korruptiver Strategien hauptsächlich an der eigenen Bereicherung arbeiten und somit jede grundlegende Reform des Systems verhindern.

Das sind weiterhin höchst mächtige Pharmakonzerne, deren Interesse allein der Profit ist - auf Kosten und auf (Gesundheits-)Risiko der Bevölkerung - und die ihren weitreichenden Einfluss auf vielen Ebenen ausüben: angefangen beim einzelnen Arzt, der besondere Honorare empfängt, bis hin zu Regierungsvertretern, deren Gunst in wichtigen Angelegenheiten mit Milliardensummen erkauft wird.

Drittens sind es die Vertreter von Staat und Regierung, die ihre Fürsorge- und Verantwortungspflichten gegenüber der Bevölkerung verletzen, indem sie zugunsten wirtschaftlicher Interessen gegen das gesundheitliche Wohl der Masse handeln. Bisher hat es noch keine Gesundheitsreform erreicht, echte, d.h. strukturelle Reformen in Gang zu bringen. Stattdessen wird weiterhin dort "abgezockt", wo es keine einflussreiche Lobby gibt: bei der Bevölkerung.

Neben den großen Übeltätern im Gewinnspiel rund um die Gesundheit gibt es aber auch viele kleine Mitspieler, die zwar nicht im Einzelnen, aber im Heer der Masse durchaus bedeutsam sind. Dazu gehören viele niedergelassene Ärzte, die - auch weil sie aufgrund des Systems häufig in einen Konflikt zwischen Ethik und Ökonomie getrieben werden - das überwiegend unkontrollierte Abrechnungssystem gewinnbringend für sich ausnutzen und auf diese Weise insgesamt jährliche Schäden in Milliardenhöhe verursachen.

Im Wesentlichen regiert das alte Problem des Machtfaktors Geld. Dieser führt zu einer verantwortungslosen Zwei-Klassen-Gesellschaft, bei der die einen mit dem Risiko leben müssen, nicht gut genug behandelt zu werden - die anderen aber überbehandelt werden und somit ebenfalls überflüssigen Risiken ausgesetzt sind.

Immer wieder mahnt Blüchel zu Alternativmodellen in Struktur und Verwaltung des Gesundheitssektors. Es geht ihm um eine radikale Reform des gesamten Gesundheitswesens. Blüchel nennt etliche konkrete Einzelvorschläge, so z.B. die Einführung eines Straftatbestandes gegen die zunehmende Zahl an Diagnose- und Behandlungsfehlern; eine längst fällige Verbesserung der Ausbildung der Mediziner; die Einführung des vom Gesundheitsministerium ins Gespräch gebrachten Ärzte-TÜV zur effektiven Qualitätskontrolle; eine Fortbildungspflicht sowie regelmäßige Facharztprüfungen; größere Transparenz bei der Durchführung medizinischer Maßnahmen, z.B. durch Dokumentationszwang; größere Transparenz im Abrechnungssystem.

Leider weht das stark gedehnte Buch hindurch ein Wind des Reißerischen, Polemischen. Das streckenweise heftige Vokabular schadet der Sachlichkeit der Darstellung. Schon Titel und Inhaltsverzeichnis geben diesen Ton vor - und wecken damit ja auch Interesse. Die einzelnen Kapitel sind jedoch zu dramatisch und gleichzeitig zu undeutlich betitelt, teilweise auch zu grob gegliedert. Ein stringenter innerer Aufbau ist schwer zu erkennen. Das Buch liest sich wie eine Reihung von Kriminalgeschichten.

Positiv hervorzuheben ist der höchst aktuelle Bezug zur gegenwärtigen politischen Lage, auch mit häufigem Blick auf den internationalen Vergleich. Dabei wird noch einmal schmerzlich bewusst, dass auch die derzeitigen Reformversuche der Bundesregierung diese Darstellung kaum überholen können.

Trotz der stilistischen Kritik ist das Buch ein wichtiger Beitrag, weil es in seiner unverfrorenen Sprache aufrüttelt, die Augen öffnet. Blüchel verarbeitet nicht nur viele Informationen, sondern reißt aus jeglicher Indifferenz heraus. Das Problem geht jeden etwas an. Die Mängel unseres Gesundheitssystems können jeden treffen und im Einzelfall sogar Leben kosten!