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„Die Regierung nutzt die Pandemie, um Staatsgelder an ihr Klientel in In- und Ausland umzuleiten“

© Transparency International Hungary

Interview mit József Péter Martin, Geschäftsführer von Transparency International Ungarn, das in einer gekürzten Version in 87. Ausgabe des Scheinwerfer erschienen ist.

You can find an English version of this interview with József Péter Martin, Managing Director of Transparency International Hungary, here.


Das Parlament in Ungarn hat aufgrund der Corona-Krise am 30. März 2020 ein umstrittenes Notstandsgesetz verabschiedet, das Regierungschef Viktor Orbán mit weitreichenden Vollmachten ausstattet. Wie beurteilen Sie das Gesetz?

Transparency Ungarn kritisiert das Gesetz („Authorization Act“) an zwei wichtigen Punkten: Wie unserer Stellungnahme nach der Verabschiedung des Gesetzes zu entnehmen ist, bezieht sich die Hauptkritik auf die unbestimmte Dauer des Gefährdungszustands, der oft als Ausnahmezustand bezeichnet wird. Das beunruhigt uns zweifellos am meisten, da es die Regierung ermächtigt, per Dekret zeitlich unbegrenzt und ohne Zustimmung des Parlaments zu regieren. Wir kritisieren nicht die erweiterten Machtbefugnisse an sich, die die Regierung zur Eindämmung der Pandemie gefordert hat. Wir sind allerdings der festen Überzeugung, dass diese auf einen im Voraus festgelegten Zeitraum von 30, 60 oder maximal 90 Tagen begrenzt und der parlamentarischen Überprüfung unterliegen sollte. Ein Gefährdungszustand auf unbestimmte Zeit wäre nur dann notwendig, wenn das Parlament nicht in der Lage wäre, sich zu versammeln - eine Situation, die höchstunwahrscheinlich ist.

Das Parlament in Ungarn ist immer noch tätig und die überwiegende Mehrheit von Orbáns Partei stimmt einem Gesetz nach dem anderen zu. Sie nutzt die Sorge der Bevölkerung aufgrund der Corona-Pandemie, um einige dubiose Deals durchzusetzen und ihrem Klientel Staatsgelder zuzuschieben.

Befürchten Sie, dass Ungarn zu einer Diktatur wird, wenn es keine Beschränkung der Regierung über Dekrete gibt?

Bisher kann ich einen solchen Wandel nicht erkennen. Auch wenn der „Authorization Act“ eindeutig problematisch ist und an manchen Stellen vielleicht sogar gegen die ungarische Verfassung verstößt, ist Ungarn noch keine Diktatur. Ich finde es etwas merkwürdig, dass einige Beobachter, Journalisten und sogar einige Akademikerinnen und Akademiker es so darstellen, als wäre Ungarn über Nacht von einer Demokratie zur Diktatur geworden. Die demokratische Rezession in Ungarn begann vor neun oder zehn Jahren. Die Überzentralisierung, die Vereinnahmung des Staates („state capture“) und der Rückgang des Rechtsstaats schreiten in Ungarn seit 2010/2011 kontinuierlich voran. Ich darf daran erinnern, dass Transparency Ungarn als erste Institution im Land bereits 2012 von „state capture“ in Ungarn gesprochen hat. Schon vor der Pandemie konnte man Ungarn nicht als Demokratie nach westlichen Vorstellungen bezeichnen. Kurz gesagt, ist es eine Art „hybrides Regime“ zwischen (liberaler) Demokratie und Diktatur. Trotz der unbegrenzten Dauer des „Authorization Act“ erscheint mir dieser Begriff immer noch angemessener als der der Diktatur.

Wir in Ungarn beobachten, dass sich seit vielen Jahren bestehende Tendenzen wie Zentralisierung oder Vetternwirtschaft unter dem korrupten Regime weiterverbreiten. Es stimmt, dass manche befürchten, dass Orbán und die Regierung den „Gefährdungszustand“ nach der Pandemie nicht zurücknehmen werden. Ich sage nicht, dass die Chancen dafür gleich Null sind, aber nach meinem derzeitigen Kenntnisstand halte ich es für unwahrscheinlich.

Unseren Beobachtungen in den letzten Jahren zufolge, wurden aus einigen Maßnahmen und Gesetzen des Orbán-Regimes „tote Buchstaben“, da sie nicht umgesetzt wurden. Das geschah mit dem Gesetz über „ausländisch finanzierte Organisationen“ – einer milderen Version des russischen Gesetzes über „ausländische Agenten“ und mit dem völlig undurchsichtigen Gesetzespaket „Stop Soros“. Transparency Ungarn hat diese Gesetze abgelehnt und internationale Institutionen gebeten, diese nicht anzuerkennen. Aber wir sollten beachten, dass die meisten Bestimmungen dieser Gesetze „tote Buchstaben“ geworden sind, da sie nicht umgesetzt wurden. Nur zwei Beispiele: Im Gegensatz zum Wortlaut des Gesetzes gab es keine Sondersteuer für Organisationen, die „Migration fördern“, und es gibt auch keine Sanktionen, wenn eine „vom Ausland finanzierte“ Nichtregierungsorganisation dies nicht regelmäßig erklärt. Diese Gesetze sind eher symbolischer Natur und dienen als Manipulationsinstrumente. Das könnte auch beim „Authorization Act“ der Fall sein. Andererseits weiß man in einem System ohne Gewaltenkontrolle nie, ob diese „toten Buchstaben“ von Orbán wiederbelebt werden.

Gibt es weitere Bestimmungen des „Authorization Act“, die Sie für problematisch oder verfassungswidrig halten?

Abgesehen von der mangelnden Befristung kritisiert Transparency Ungarn, dass das laut dem Gesetz „Angstmacherei“ mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft werden kann. Auch wenn die Verbreitung von Falschnachrichten über die Pandemie bestraft werden sollte, sind wir der Meinung, dass diese Bestimmung viel zu vage ist und von der Regierung willkürlich missbraucht werden könnte. Die Einführung dieser neuen Norm für die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen könnte zu einer Gleichsetzung von regierungskritischem Journalismus und „Angstmacherei“ führen. Obwohl ich nicht glaube, dass die unmittelbare Gefahr einer Inhaftierung von Journalistinnen und Journalisten besteht, was unter dem Orbán-Regime noch nicht vorgekommen ist, könnte diese Bestimmung als ein neues Instrument zur Einschüchterung gegen die verbleibenden freien Medien wahrgenommen werden. Ich denke und hoffe, dass dieser Teil des „Authorization Act“ nicht missbraucht und unangemessen angewendet wird. Und nochmal: Der Rückschritt der Medienfreiheit hat schon vor vielen Jahren begonnen und sich seit 2016 beschleunigt. Dies hat in erster Linie nicht mit gesetzlichen Regelungen zu tun, sondern mit der zunehmenden Übernahme vieler Medienunternehmen durch regierungsnahe Wirtschaftsakteuren und Oligarchen, die diese zu einem Teil der Propagandamaschinerie gemacht haben.

Sie sagten, dass Zentralisierung und Vetternwirtschaft nach dem Ausbruch der Pandemie zugenommen haben. Können Sie konkrete Beispiele nennen?

Leider ist die Liste lang. Ungarn war schon vor der Covid-19-Krise das am stärksten zentralisierte Land in der Europäischen Union. In letzter Zeit wurde dieser Trend durch Maßnahmen wie den Entzug eines erheblichen Teils der Einnahmen der Kommunalverwaltungen noch verstärkt. Die sogenannte „Kraftfahrzeugsteuer“ wurde den Kommunen entzogen und in den Staatshaushalt umgeleitet. Darüber hinaus werden durch ein kürzlich erlassenes Dekret „Sonderwirtschaftszonen“ eingerichtet, um „die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie abzuschwächen“. Das bedeutet beispielsweise, dass der Kleinstadt Göd nördlich von Budapest, in der sich eine Samsung-Fabrik befindet, die lokale Unternehmenssteuer und damit ein Drittel der Gesamteinnahmen vorenthalten wird.

Ein Beispiel der Zunahme von Vetternwirtschaft und systemischer Korruption ist, dass mehrere Regierungsvertreterinnen und -vertreter in letzter Zeit erhebliche staatliche Vermögenswerte erhalten haben. So hat beispielsweise eine Jägervereinigung, die mit dem stellvertretenden Premierminister Zsolt Semjén in Verbindung steht, 1,7 Milliarden ungarische Forint (5 Millionen Euro) erhalten. Es werden auch einige dubiose Investitionen, die für die Regierung prestigeträchtig sind, dringend und mit Druck durch den Gesetzgebungsprozess getrieben. Die größte unter ihnen ist der undurchsichtige Deal mit China für eine Bahnstrecke zwischen Budapest und Belgrad. In diesen und vielen anderen Fällen nutzt die Regierung die aktuelle Situation, in der sich die Menschen über die Pandemie und ihre Folgen sorgen, um Staatsgelder und Vermögenswerte an die Klientel des Regimes im In- und Ausland umzuleiten.

Was erwarten Sie von der EU und was können andere Regierungen tun?

Die Herausforderung für die EU mit oder ohne Pandemie ist die gleiche: Was soll mit Mitgliedstaaten geschehen, die systematisch gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben? Mit der Überzentralisierung ist Ungarn wahrscheinlich am meisten vom westlichen Idealtypus der Demokratie abgewichen und hat in dieser Hinsicht eine Kehrtwende vollzogen. Die Idee, das Thema der Rechtsstaatlichkeit mit EU-Geldern zu verknüpfen, wird von Transparency Ungarn begrüßt, aber wir sehen noch nicht, wie dies effektiv umgesetzt werden kann und wird. Ein gangbarer Weg könnte sein, einen Teil der Gelder von der Zentralregierung auf die lokale und regionale Ebene umzuleiten. Neben den technischen Einzelheiten ist die politische Verpflichtung von entscheidender Bedeutung. Da die mehrstufigen Verfahren der EU sehr komplex sind, zeigen die verschiedenen Interessen unterschiedliche Lösungen auf. Die internationale Gemeinschaft sollte ohne Zweifel genau beobachten, was in Ungarn und anderen Ländern derzeit geschieht. Die Pandemie könnte widersprüchliche Auswirkungen auf die supranationalen Beziehungen haben, da sie einerseits wahrscheinlich den „Nationalstaat“ und den Populismus stärkt, andererseits aber auch zeigen wird, dass einzelne Länder zu klein und bedeutungslos sind, um die Krise zu bewältigen.

Wie wirkt sich die gegenwärtige Situation auf die Arbeit von Transparency International Ungarn aus?

Seit Mitte März arbeiten wir von zu Hause aus. Glücklicherweise gibt es keine größere Unterbrechung unserer Aktivitäten, obwohl natürlich alle geplanten Veranstaltungen und Konferenzen wegen des Lockdowns verschoben werden mussten. Wir stehen in Kontakt mit unseren Geldgebern, von denen die Europäische Union bei weitem der größte ist. Sie unterstützen uns und haben Verständnis dafür, dass einige Aktivitäten, die persönliche Anwesenheit und Austausch erfordern, vorübergehend verschoben werden müssen.

Fragen: Sylvia Schwab

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