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„Die Regierung Kohl war fest davon überzeugt, dass wir die deutsche Wirtschaft ruinieren“

Berlin, 01.04.2024 – Im Interview spricht Peter Eigen, Gründer von Transparency International, über das 30-jährige Jubiläum der Antikorruptionsorganisation, die Anfangstage und die Bedeutung von Multi-Stakeholder-Ansätzen.

Dieser Artikel ist ursprünglich im Scheinwerfer 100 (S. 6) von Oktober 2023 erschienen.


Im Juni 1993 gründete Peter Eigen Transparency International e.V., die bis heute führende Antikorruptionsorganisation weltweit. Gemeinsam mit den ersten Mitstreiterinnen und Mitstreitern hatte er erkannt, wie sehr strukturelle Korruption die wirtschaftliche und soziale Entwicklung weltweit unterminierte. Im Oktober 1993 wurde offiziell auch Transparency International Deutschland e.V. als deutsches Chapter gegründet.  

Im Gespräch mit Margarete Bause, stellvertretende Vorsitzende von Transparency Deutschland und Scheinwerfer-Redakteurin, blickt Peter Eigen auf die Anfangszeit zurück wie auch auf aktuelle Herausforderungen. 

Bause: Es gibt dieses schöne Zitat, dass nichts mächtiger ist als eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Als Sie vor 30 Jahren Transparency gegründet haben, hatten Sie da das Gefühl, dass die Zeit gekommen ist für eine Antikorruptionsorganisation? Oder war es einfach nur der Frust, dass die Weltbank Ihnen einen Maulkorb verpasst hat? 

Eigen: Ich glaubte damals nicht, dass die Zeit gekommen sei, um eine wichtige Veränderung durchzusetzen, im Gegenteil. Die Weltbank hat Korruption weitgehend als eine interne politische, gesellschaftliche, kulturelle Angelegenheit angesehen und sich deswegen rausgehalten – und ich hatte zunächst das Gefühl, dass es eigentlich ganz gut war, dass die Weltbank sich nicht in die internen Angelegenheiten ihrer Mitgliedstaaten eingemischt hat. 

Es war eher so, dass ich verärgert war darüber, wie sehr die systematische Korruption, die vor allen Dingen auch aus dem Globalen Norden kam, die Entwicklung im Globalen Süden praktisch behindert und zerstört hat. Das habe ich damals in Kenia erlebt. Ich war Direktor des Regionalbüros für Ostafrika in Nairobi. Nicht nur in Kenia, sondern auch in den Nachbarländern habe ich gesehen, wie häufig systematische Bestechungen von großen Unternehmen, auch aus Deutschland, die Entscheidungen der Regierungen pervertiert haben. 

Das war für mich ein Signal, etwas dagegen zu unternehmen. Nicht nur, um die Projekte der Weltbank gegen diese Art von Korruption zu schützen, sondern auch, um insgesamt den Menschen in diesen Ländern zu helfen. Das galt damals als naiv, romantisch und praktisch völlig überoptimistisch. Insofern war es zunächst gar nicht so einfach für mich, mir zu überlegen, dass ich da etwas ausrichten könnte. 

Wie haben Sie konkret angefangen?  

Ich habe es am Anfang nicht „Transparency International“, sondern „Business Practice Monitor“ genannt. Ich bin davon ausgegangen, dass die großen Unternehmen, die in Afrika überall bestechen mussten, um Aufträge zu erhalten, eine Art Kartell der Ehrlichkeit schaffen und sich einigen könnten, dass alle gleichzeitig mit Korruption aufhören. Ziel war es, dass keiner darunter zu leiden haben müsste, wenn er sich vernünftig verhält. Wir wollten den „Moral Hazard“ des Schadens, wenn man sich als Einziger moralisch anständig verhält, auf diese Weise überwinden. 

Aber dann hat sich sehr schnell herausgestellt, dass es nicht ohne die Mitwirkung auch der afrikanischen Länder geht. Deswegen habe ich schon 1989 in einem Retreat, den alle afrikanischen Resident Representatives der Weltbank hatten, vorgeschlagen, dass wir eine Organisation schaffen, in der die Weltbank ihren Einfluss, ihre Netzwerke und auch ihre Fähigkeiten, solche Dinge zu verstehen, einsetzen würde, um die Korruption insgesamt zu bekämpfen. Da bin ich sehr unterstützt worden, auch vom Weltbank-Vizepräsidenten Kim Jaycox.  

Aber sehr schnell habe ich mitbekommen, dass die Weltbank das nicht zulassen würde. Hinterher ist mir klar geworden, warum. Der Grund war, dass die Mitgliedstaaten der Weltbank – Deutschland zum Beispiel, Großbritannien, Frankreich, Japan und so weiter, mit der großen Ausnahme der USA – gesagt haben: Wir müssen es unseren Staatsangehörigen im internationalen Markt, der inhärent korrupt ist, erlauben, sich an dieser Korruption zu beteiligen. In deren Augen war es absolut nicht an der Zeit, eine solche Organisation einzuführen. 

Warum haben Sie ausgerechnet eine NGO gegründet? 

In der Weltbank hatte ich erlebt, wie wichtig die Zivilgesellschaft mit ihrer Unabhängigkeit von den politischen Winden, Bedürfnissen und Interessen ist, vor allen Dingen in den einflussreichen Staaten. Insbesondere in den USA waren die NGOs mächtig geworden, was zum Beispiel den Schutz der Umwelt und Menschenrechte anbelangt. Ich selbst war gar nicht so darauf eingestellt, dass ich eine NGO gründen würde, sondern dachte einfach: Ich will jetzt die Leute, die mir helfen wollen, zusammenbringen. 

Das habe ich zunächst innerhalb der Weltbank gemacht, um zu überlegen, wie wir in den verschiedenen Projekten die Korruption bekämpfen würden. Aber wir kriegten sehr schnell von der Rechtsabteilung der Weltbank eine Nachricht, dass das nicht die Aufgabe der Weltbank sei und sofort unterlassen werden sollte. Da habe ich gesagt, na, dann mache ich das in meiner Freizeit und habe praktisch immer abends nach 5 Uhr, wenn meine Arbeitszeit beendet war, damit angefangen. So habe ich eine Gruppe aufgebaut, die sich mit mir zusammentun wollte. Das hat sich langsam formiert. Es waren viele Leute aus dem Globalen Süden dabei, die mich sehr stark unterstützt haben, zum Beispiel ein früherer Präsident von Ecuador und ein früherer Präsident von Nigeria.  

Als ich das immer weiter betrieben habe, kriegte ich eine weitere Nachricht von der Weltbank: Es sei absolut peinlich für die Weltbank, wenn einer ihrer Direktoren plötzlich solche romantischen, naiven Ideen vortrage. Ich solle sofort aufhören, sonst müsse ich die Weltbank verlassen. Das habe ich dann gemacht. Das war zeitgleich mit dem Fall der Mauer in Berlin, daher hatte ich sowieso große Lust, nach Berlin zurückzugehen.  

Ich war zu der Zeit auf internationalen Konferenzen und habe über die Idee von Transparency International gesprochen. Im Herbst 1992 wollten wir schließlich in Berlin eine Konferenz machen, unterstützt von Hansjörg Elshorst, damals der Chef der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, die heutige GIZ, und Peter Söthje, Chef der Deutschen Stiftung für Entwicklung. Doch ein Staatssekretär, der andere Ideen hatte als wir, hat uns die Verwendung der dafür nötigen öffentlichen Mittel verboten. Ich musste die ganzen Leute, die ich schon nach Berlin eingeladen hatte, wieder ausladen – und es dauerte noch ein ganzes Jahr, bis wir 1993 letztlich Transparency International gründen konnten. 

Ja, die Zeit war wahrscheinlich reif, aber die entscheidenden Persönlichkeiten und Institutionen waren es noch nicht.  

Daran kann man im Grunde ermessen, welche großen Erfolge Sie mit Transparency in den 30 Jahren erreicht haben. Wenn ich mir das vergegenwärtige, war die Gruppe, die Transparency zu Beginn gegründet hat, sozusagen eine Bewegung „von oben“. Es war keine zivilgesellschaftliche Bewegung „von unten“, sondern es waren ein paar Banker, Menschen aus der Entwicklungszusammenarbeit, Unternehmer, die versucht haben, durch ihr Netzwerk diese NGO zu gründen.  

Heute ist Transparency eine weltweite zivilgesellschaftliche Organisation. Wie ist es denn gelungen, aus dieser Handvoll überzeugter Menschen, die die Gefahr der Korruption gesehen haben, eine zivilgesellschaftliche Organisation zu gestalten, die versucht, ein gesellschaftliches Gegengewicht herzustellen?  

Das ist eine sehr interessante Beobachtung. Im Grunde haben wir Menschen versammelt. Es waren vor allem Leute aus dem Globalen Süden, die sich beteiligt haben. In Ecuador zum Beispiel hatten wir nicht nur die Unterstützung eines früheren Präsidenten und eines Universitätspräsidenten. Die Kraft, die wir in Ecuador bekommen haben, das waren die Menschen, die auf die Straße gegangen sind und gegen Korruption demonstriert haben. Und dasselbe trifft zu in Argentinien oder in Bangladesch.  

Wenn wir die Mobilisierung einfacher Menschen erreichen und mächtige Menschen in ihrer zivilen Eigenschaft und nicht mit der Autorität des Staates dabei sind, dann ist der zivilgesellschaftliche Beitrag wirklich wirksam. Aber auch nur dann, wenn sie sich arrangieren mit den anderen beiden Akteuren einer Gesellschaft, nämlich Politik und Privatsektor. Die größten Erfolge sind uns gelungen, wenn wir diese drei Akteure zusammengebracht haben. Statt Einzelfälle von Korruption aufzudecken und anzuklagen versuchen wir, die Systeme zu verändern. Die systemische Veränderung gelingt meines Erachtens fast nur dann, wenn man gemeinsame Strategien mit Regierung und Privatsektor entwickelt. 

Wie sah es im Fall von Deutschland aus? 

Es war sehr, sehr schwierig, die Menschen an den Tisch zu kriegen. Aber wir haben im Laufe der Zeit eben diesen Multi-Stakeholder-Ansatz verfolgt. Die Regierung Kohl war fest davon überzeugt, dass wir die deutsche Wirtschaft ruinieren, wenn wir den Deutschen nicht mehr erlauben, im Ausland zu bestechen. Wir haben Berichte über Wutanfälle im Kabinett. Der damalige Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt hat versucht, mich ausschließen zu lassen von den Verhandlungen über die berühmte OECD-Konvention gegen Bestechung von ausländischen Amtsträgern. Gott sei Dank haben uns die US-Amerikaner geschützt, weil sie umgekehrt das Interesse hatten, dass alle anderen – genauso wie sie selbst das bereits 1978 unter Präsident Jimmy Carter im Foreign Corrupt Practices Act gemacht hatten – ihre Staatsangehörigen daran hindern, im Ausland zu bestechen.  

Das war ein sehr interessantes Spiel, was uns da gelungen ist. Wir haben in Berlin im Aspen-Institut Treffen organisiert. Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat den Vorsitz geführt. Wir haben wichtige Industriekapitäne zusammengeholt und im Laufe von zwei Jahren drei Sitzungen gehalten. In der ersten Sitzung hat Richard von Weizsäcker einen Wutanfall gekriegt und hätte beinahe die Sitzung abgebrochen, weil die Vertreter der Industrie gesagt haben, wir müssen im Ausland bestechen. Wenn wir da nicht bestechen, verlieren wir alle unsere Aufträge, dann gehen wir bankrott. Im zweiten Treffen haben wir gemerkt, dass manche der Beteiligten, Siemens zum Beispiel, gesagt haben: Wenn ihr dafür sorgen könnt, dass die anderen auch nicht bestechen, können wir auch aufhören. Es wurde für uns ein Ziel, solche Verabredungen zustande zu bringen. Wir nennen das jetzt Integrity Pacts. Im dritten Treffen haben wir diese Dinge durchformuliert. 

Daraufhin haben die Industriebeteiligten einen offenen Brief an die Kohl-Regierung geschrieben und darin gesagt, bitte beteiligt euch an der OECD-Konvention gegen internationale Korruption – und das hat Deutschland dann gemacht. Wenn das nicht geschehen wäre, hätte Deutschland sich nie beteiligt. Und wenn Deutschland sich nicht beteiligt hätte, dann hätten die Franzosen nicht unterschrieben und auch nicht die Briten. Lord Young zum Beispiel, der Handelsminister in Großbritannien zu der Zeit, hat ebenfalls gesagt, er könne seinen Staatsangehörigen nicht verbieten zu bestechen, wenn alle anderen besprechen.  

Dieser Durchbruch war 1996. 1997 wurde die OECD-Konvention gegen ausländische Bestechungen unterschrieben und 1999 ist sie in Kraft getreten. Das war ein Riesenschritt, der bis heute sehr, sehr wichtig erscheint. Wichtiger, um ehrlich zu sein, als die UN-Konvention, denn sie kam hinterher, weil der Widerstand durch die OECD-Konvention gebrochen war. 

Haben Sie den Eindruck, dass sich in den letzten 30 Jahren das Bewusstsein gewandelt hat – dass man selbstkritischer geworden ist, was die Korruption im eigenen Land angeht? 

Ich habe schon das Gefühl, dass die Menschen inzwischen einsehen, dass zum Beispiel die internationale Korruption häufig von uns aktiv betrieben wird und nicht nur von korrupten Ministern, Präsidenten und Staatsbeamten im Globalen Süden verlangt wird. Was vielleicht noch nicht so erkannt ist, das ist, wie stark durch Lobbyarbeit und durch Bestechung auch von gesetzgebenden Organisationen internationale Korruption verdeckt bleibt und immer noch einen großen Schaden anrichtet. 

Nehmen wir zum Beispiel ein großes Bergwerkprojekt in einem Land des Globalen Südens, wo Kupfer hergestellt wird. Das wird verkauft an eine Firma, die ihren Sitz in einer Steueroase hat. Keiner weiß, dass diese Firma demselben Unternehmen gehört, das deswegen sehr wenig für das Kupfer bezahlen muss. Dadurch entstehen Riesengewinne für diese anonyme Tochtergesellschaft. Das lokale Unternehmen hat jedoch Verluste und die lokale Regierung bekommt keine Steuern. Die Arbeiter können nicht anständig bezahlt werden. Hinterher können die Umweltschäden durch diese großen Kupferminen nicht repariert werden, weil das Geld auf diese Weise aus dem Land herausgeholt wird. Daher ist die Frage der Transparenz der wahren Eigentümer – die Beneficial Ownership – von großen Unternehmen unglaublich wichtig. 

Ich habe das Gefühl, dass unsere jetzige Regierung da auf dem richtigen Weg ist. Sie werden natürlich sehr stark behindert durch andere Interessen, die sehr viel Einfluss haben. Die Interessierten am Status quo gehen sehr intelligent vor und haben sehr viele gute Juristen und Buchprüfer, die sie unterstützen.  

Welche Hausaufgaben muss die Bundesregierung erledigen?   

Der Deutsche Bundestag hat sich lange Zeit geweigert, die UN-Konvention gegen Korruption zu ratifizieren. Das war eine skandalöse und für mich wirklich beschämende Situation. Warum? Weil unter dieser UN-Konvention auch die Bestechung von Abgeordneten strafbar gemacht werden musste. Viele Abgeordneten dachten, sie wollen umfassende Kontakte in ihren Wahlkreisen und dabei nicht mit einem Bein schon im Gefängnis stehen. Aber wie sehr man eine solche Regelung gerade im Bundestag braucht, das sieht man aktuell an der Maskenaffäre.  

Man sieht auch, wie sich  Abgeordnete dagegen sträuben, zum Beispiel ein Lobbyregister anzulegen, das wirklich transparent ist. Nicht nur auf der Bundesebene, auch auf Landesebene. Daher ist es wichtig, dass Transparency da immer noch aktiv ist.  

Genauso wie im Privatsektor. Das zeigt sich daran, wie die Geldwäsche und die Beneficial Owner immer noch verdeckt sind. Bei all diesen Dingen muss man meines Erachtens mit Multi-Stakeholder-Initiativen ansetzen. Da haben wir noch sehr, sehr viel vor uns.  

Aktuell stehen wir vor großen Herausforderungen für unsere Gesellschaft, zum Beispiel die Gefährdung demokratischer Institutionen von innen und außen, wie wir sie gerade erleben, oder die Zuspitzung der Klimakrise, die vieles in Frage stellt, was wir bisher für normal gehalten haben. Wo sehen Sie hier die Aufgaben für Transparency?  

Mit Blick auf diese großen Probleme, die wir im Augenblick haben, brauchen wir eine unheimliche Anstrengung der Gesellschaft, um Lösungen zu finden. Und alle diese Lösungen werden durch Korruption pervertiert. Es ist ganz klar zum Beispiel was den Krieg in der Ukraine anbelangt, dass die Macht und der Reichtum der Oligarchen, der in Russland, aber auch in der Ukraine und verschiedenen anderen osteuropäischen Ländern durch Korruption zusammengekommen ist, eine riesige Gefahr für die Demokratie darstellen.  

Insofern ist die Gefährdung der Demokratie durch autokratische Bewegungen, auch bei uns in Deutschland, zum Teil durch Korruption verursacht. Wenn man sich in Deutschland anschaut, wer im Augenblick die höchsten Großspenden erhält, dann sind das nicht die demokratischen Parteien. Die Pervertierung der demokratischen Institutionen ist ein großes Risiko für uns alle. Ich hoffe, dass sowohl in den USA als auch in Frankreich, aber auch in anderen europäischen Staaten wie Ungarn und Polen die Demokratien gerettet werden können. Dabei wird der Kampf gegen die Korruption in all diesen Ländern eine große Rolle spielen. 

Der Raum, den man der Zivilgesellschaft einräumt, damit sie ihre Arbeit tun können, wird immer mehr bedroht. In Deutschland geht es uns verhältnismäßig gut. Es werden weiterhin sehr wichtige zivilgesellschaftliche Organisationen gegründet und diese sind wichtige Sprachrohre, wenn die repräsentative Demokratie das nicht mehr anbieten kann. Insbesondere auf der kommunalen Ebene sehen wir sehr viele Beispiele dafür, wie wichtige Regierungsprobleme durch Multi-Stakeholder-Partizipation gelöst werden. Natürlich sind wir, die zivilgesellschaftlichen Organisationen, lästig. Wir lassen uns keinen Maulkorb verpassen.  

Viele Chapter kämpfen, um sich in ihrem Umfeld durchzusetzen. Die Leute werden eingeschüchtert, werden vertrieben, gerade in Ländern, die bedroht sind durch autokratische Regierungen. Manchmal überlege ich mir, ob wir nicht grundlegend einiges ändern müssen im System der Vereinten Nationen. Denn die Vereinten Nationen sind eine Organisation, die auf einem lowest common denominator operiert – mit einem Vetorecht der Russen und der Chinesen. Wie kann so eine Organisation effektiv werden? Müssten die Vereinten Nationen nicht grundlegend verändert werden, indem der globalen Zivilgesellschaft mehr Einfluss gegeben wird? Denn die Zivilgesellschaft ist in den meisten Ländern auf die Gnade der Entscheidungsträger angewiesen. Deswegen kann sie ihre volle Kraft nicht entwickeln, die ja allen zugutekommen würde. Vielleicht braucht man so etwas wie die Vereinten Zivilgesellschaften. Aber das ist utopisches Denken.  

Ja, ein spannender Gedanke. Es ist ja gerade Ihr Beispiel, dass man sich auch von erst mal utopisch erscheinenden Ideen nicht abhalten lassen sollte, Schritt für Schritt zur Verwirklichung beizutragen. Ihnen hat man vor 30 Jahren auch gesagt, dass es utopisch sei, die Korruption eindämmen zu können. Und Sie haben gesagt: Probieren wir es halt mal! Sie sind unbestritten der Gründervater von Transparency. Ihr Kind ist jetzt 30 geworden. Was wünschen Sie Ihrem Kind?  

Es ist sehr wichtig, dass Transparency International seine Wurzeln in den nationalen Sektionen behält. Im Augenblick haben wir über 110 nationale Sektionen. Sie sind es, die in ihrer eigenen Kultur, in ihrem eigenen politischen System beurteilen können, was die Korruptionsprobleme sind, welche Schwächen es im Integritätssystem gibt und was die Möglichkeiten sind, um etwas zu verändern und lokale Koalitionen zu schmieden.   

Weiterhin ist meines Erachtens wichtig, dass wir uns nicht darauf einlassen, Einzelfälle der Korruption aufzuspüren und zu veröffentlichen. Wir können natürlich Korruptionsfälle, die öffentlich sind, untersuchen, daraus lernen und kritisieren. Wir sollten uns jedoch auf die systemischen Veränderungen konzentrieren.  

Der dritte Punkt ist der Versuch, durch ein permanentes Zusammenspiel von Regierung, Zivilgesellschaft und Privatsektor einen Multi-Stakeholder-Konsens herzustellen. Wir sollten gemeinsam überlegen, wo die Probleme der Korruption und der Governance insgesamt liegen. Trotz inhärent verschiedener Interessen und Perspektiven sollten wir uns respektvoll, intelligent und höflich zuhören und gemeinsam einen Konsens entwickeln.  

Ich bin froh darüber, wie stark unsere Chapter und unser internationales Sekretariat in Berlin im Augenblick sind. Ich bin etwas besorgt über die Möglichkeiten der Finanzierung, die früher größer waren. Vor allen Dingen habe ich ein bisschen Sorgen, dass die Idee der Projektfinanzierung zum Teil dazu führt, dass man Projekte übernimmt, die die Finanzierungsorganisationen wollen und die nicht unbedingt von uns gewollt werden. Aber im Grunde genommen sind wir auf dem richtigen Weg und ich hoffe, dass wir alle uns so gut weiterentwickeln wie das deutsche Chapter, das eines der besten Chapter weltweit ist.   

Vielen herzlichen Dank für das Gespräch. 

Die ungekürzte Version des Interviews können Sie im Podcast „Durchblick“ von Transparency Deutschland auf www.transparency.de/podcast sowie auf allen üblichen Podcast-Portalen nachhören.