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Interview mit Ärzte ohne Grenzen zum Krieg in der Ukraine

© Ärzte ohne Grenzen

Das internationale Netzwerk von Médecins Sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen wurde 1971 gegründet und ist in mehr als 70 Ländern weltweit ständig im Einsatz. Ärzte ohne Grenzen leistet medizinische Nothilfe in Konfliktgebieten, nach Naturkatastrophen und während Epidemien. Die Mediziner*innen, Psycholog*innen und Logistiker*innen aus aller Welt arbeiten stets eng mit Kolleg*innen aus den Einsatzländern zusammen.

Seit 2010 ist die deutsche Sektion von Ärzte ohne Grenzen Unterzeichner der von Transparency Deutschland 2010 ins Leben gerufenen Initiative Transparente Zivilgesellschaft (zur Transparenzseite). Angesichts des derzeitigen Kriegs möchten wir wissen, wie Ärzte ohne Grenzen den Menschen in der Ukraine und den vielen Geflüchteten hilft und welche Herausforderungen dabei für die Organisation entstehen. 

Wie sieht Ihre Arbeit in der Ukraine und den benachbarten Ländern aktuell aus bzw. was sind die größten Herausforderungen?

Unsere regulären Tuberkulose- und HIV-Programme in der Ukraine haben wir am 24. Februar eingestellt. Seitdem arbeiten unsere Teams Tag und Nacht, um unsere humanitäre Nothilfe an den Bedarf in den Kriegsgebieten anzupassen. Insbesondere die Versorgung von Krankenhäusern wird zum Wettlauf gegen die Zeit, bevor sie möglicherweise militärisch eingeschlossen und von Nachschub abgeschnitten werden. 

Für die Zivilbevölkerung ist die Situation besonders kritisch in den militärisch eingeschlossenen Gebieten: Es herrscht Mangel an Nahrung, Wasser, Strom und Heizung – besonders in Mariupol, wie unsere Mitarbeiter*innen berichten. 
 
Ärzte ohne Grenzen hat bereits mehrere Transporte mit Medikamenten und medizinischem Material in die Ukraine geliefert, die an Kliniken verteilt wurden. Benötigt wird vor allem chirurgisches Material wie Verbände, aber auch Medikamente für Patienten mit chronischen Erkrankungen wie Bluthochdruck oder HIV – und auch Insulin – werden knapp.  

Wir versuchen stetig weitere Mitarbeiter*innen, darunter Chirurg*innen, ins Land zu bringen. In Lwiw ist etwa unser erstes chirurgisches Team eingetroffen. Nun müssen wir zu ihrer Sicherheit in den kommenden Tagen mehrere Standorte und Optionen für weitere Einsätze abwägen. In mehreren Städten (Lwiw und Odessa) haben unsere Teams Trainings für Krankenhauspersonal für einen massenhaften Zustrom von Schwerverletzten gegeben. Zudem haben wir mobile Kliniken in die Ukraine geschickt. 

Darüber hinaus unterstützen wir Geflüchtete und andere Helfer*innen an den Grenzen in Polen, Ungarn, der Slowakei, der Republik Moldau, Belarus und Russland: Zum Beispiel versorgen wir in Moldau Geflüchtete medizinisch und psychologisch. 

Ein Überblick über die Lage im Land ist nach wie vor schwierig, da in vielen Teilen des Landes leider die Kämpfe andauern. Wir sorgen uns u.a. um diejenigen Menschen, die dringend regelmäßige Versorgung brauchen: Ältere Menschen, chronisch Kranke, Frauen mit komplizierten Schwangerschaften. Der Schutz von Zivilist*innen muss immer und überall gewährleistet sein! 

Arbeiten Sie vor Ort mit anderen ggf. auch lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Behörden zusammen? Wie gestaltet sich diese Zusammenarbeit angesichts der Kämpfe und ständig verändernden Sicherheitslage?

Wie in all unseren Einsätzen versuchen wir uns eng mit anderen medizinischen Akteuren abzustimmen und zu koordinieren. Unsere Mitarbeiter*innen prüfen stetig, wo der größte Handlungsbedarf und aber auch Handlungsmöglichkeiten bestehen. Ein Netzwerk von Medizinier*innen an verschiedenen Orten im Land unterstützt uns dabei. 

Von Lwiw aus sind wir beispielsweise dabei, 160 Kubikmeter Material - mehr als 2.000 Schlafsäcke, mehr als 3.500 Thermo-Fleece-Decken, Tausende andere Kleidungsstücke sowie mehr als 500 Zelte und Hygieneartikel – ins Land zu bringen. Sie werden an lokale Organisationen der Zivilgesellschaft übergeben.

Müssen Sie die Arbeit in anderen Ländern aufgrund des Krieges in der Ukraine zurückstellen? 

Nein, bisher nicht. Allerdings ist der humanitäre Bedarf weltweit insgesamt sehr hoch, und es gibt viele weitere bedeutende Einsätze, die ebenfalls unsere volle Unterstützung verlangen – in Afghanistan, im Jemen, im Südsudan und in Zentralafrika, um nur vier Beispiele zu nennen. Neben unserer medizinischen Hilfe legen wir weiterhin transparent und umfassend Zeugnis über das Schicksal derjenigen Menschen ab, deren Leid keine oder nur eine geringe mediale Aufmerksamkeit erhält. 

Inwiefern hat sich Ihre Arbeit in Russland seit Beginn des Krieges verändert?

Ärzte ohne Grenzen arbeitet mit den Gesundheitsbehörden in den Regionen Archangelsk und Wladimir zusammen, um die Belastung durch arzneimittelresistente Tuberkulose (DR-TB) zu verringern und die Behandlung der Krankheit zu verbessern. Zudem führt Ärzte ohne Grenzen derzeit eine Bedarfsermittlung im Süden Russlands durch, um festzustellen, ob ein neuer medizinisch-humanitärer Bedarf entstanden ist. Wir haben auch einige Spenden wie Lebensmittel, Hygienesets, lebenswichtige Hilfsgüter und Medikamente bereitgestellt, die an die Vertriebenen verteilt werden können. 

Wichtig ist es uns, hervorzuheben, dass wir in unserer Arbeit den humanitären Prinzipien verpflichtet sind: Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität. Wenn wir also in Konfliktgebieten arbeiten, beziehen wir keine Stellung. Wir sind dort aktiv, wo die Menschen uns brauchen, häufig auf beiden Seiten eines Konflikts oder Krieges. Wenn wir als humanitäre Organisation in solchen Situationen notleidende Menschen erreichen wollen, müssen wir von allen beteiligten Akteur*innen respektiert werden. Daher kommunizieren wir unsere Neutralität in all unseren Einsatzgebieten.

Wir erleben derzeit eine Welle der Solidarität mit den Menschen in der Ukraine. Ärzte ohne Grenzen finanziert sich zu 96% aus Privatspenden. Nehmen Sie eine gesteigerte Spendenbereitschaft seit Kriegsbeginn wahr?

Die Spendenbereitschaft ist momentan hoch. Wir möchten an dieser Stelle unseren Spender*innen danken! Nur durch ihre Unterstützung sind wir jederzeit einsatzfähig und können dort medizinische Nothilfe leisten, wo Menschenleben in Gefahr sind. 

Wir bitten die Öffentlichkeit bereits seit 2005 konsequent darum, nicht zweckgebunden für bestimmte Situationen zu spenden, sondern zweckungebunden. So können wir die Mittel auch für Krisen in anderen Regionen verwenden, die weniger Aufmerksamkeit in den Medien. Denn mit einem Stichwort für den Verwendungszweck versehene Spenden beinhalten die Verpflichtung, das Geld entsprechend dem geäußerten Wunsch zu verwenden. Bis heute ist unsere Haltung, dass sich der Umfang unserer Projekte nur nach dem Bedarf richten soll, nicht nach der Höhe der eingegangenen Spenden. Ohne Zweckbindung können wir denjenigen schnell helfen, die unsere Nothilfe am dringendsten brauchen – auch in der Ukraine und in den Nachbarländern. 

Insbesondere regelmäßige Dauerspenden erhalten unsere Flexibilität, da wir so selbst entscheiden können, wo und wann die Not am größten ist - und gleichzeitig können wir so vorausschauend planen. Dadurch können wir auch in einer solchen Krise weiterhin an anderen Orten in der Welt helfen, an denen der humanitäre Bedarf hoch ist und die Menschen leiden.

Interview mit Barbara Gerold-Wolke, Mitglied des Management-Teams von Ärzte ohne Grenzen Deutschland und Leiterin der Spendenabteilung

Fragen von Dominik Rühlmann, Werkstudent Drittmittelprojekt Initiative Transparente Zivilgesellschaft 2.0