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Die deutsche Erbschaftssteuer: Staatsversagen in drei Akten(-Zeichen)

Kommentar von Heinrich Fischwasser und Rechtsanwältin Gundula Schmitt, in einer Kurzfassung im Scheinwerfer Nr. 96 erschienen

© Christian Dubovan / Unsplash

Jährlich wird in Deutschland Vermögen in Höhe von ca. 120 Milliarden Euro (2021) zur Erbschaftssteuer veranlagt. Die Erbschaftssteuer ist die wichtigste Stellschraube für die Vermögensverteilung und Wettbewerbsgerechtigkeit.

Dabei werden Unternehmenserben („Betriebsvermögen“) mit dem Argument der Arbeitsplatzerhaltung durch Steuerfreistellung („Verschonung“) gezielt begünstigt im Gegensatz etwa zu „privat“ vererbten Unternehmensaktien. Diese gewollte Ungleichbehandlung darf das im Art. 3 GG verankerte Gleichbehandlungsgebot allerdings nicht überstrapazieren. Daran ist der Gesetzgeber bereits mehrfach gescheitert, zuletzt wurde das entsprechende Gesetz im Jahr 2014 vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben.

Das Bundesverfassungsgericht sah einen Verstoß gegen Art. 3 GG, insbesondere in der zu starken Begünstigung von großen Vermögen. Die „Verschonung“ betrug 18 Milliarden Euro im betrachteten Jahresmittel. Es beurteilte diese als „enorm“ und setzte dem Gesetzgeber eine Frist für eine gleichheitskonforme Neuregelung. Dennoch wollte die damalige Bundesregierung nach Bekunden ihres Finanzministers Schäuble nur „minimalinvasive“ Änderungen vornehmen. Das Staatsversagen nahm seinen Lauf.

1. AKT: Drucksache 353/15 (Gesetzentwurf)

Dem Gesetzesentwurf vom April 2015 war ein beispielloser Lobbyeinsatz mit mehrfachen Interventionen bis hinauf zur Kanzlerin seitens der interessierten Verbände vorausgegangen. Zuvor hatte der damalige CSU-Vorsitzende Seehofer, eigentlich ein Kritiker von (in seinen Worten) „Schmutzeleien“ auf Instruktion eines Verbandsfunktionärs einen Regierungsentwurf gekippt und weitere Vergünstigungen implementieren lassen. Diese Vorgänge wurden in den Dokumentationen des ZDF vom 09.11.2021 (Mediathek) und von Lobbycontrol „Erbschaftssteuer“ detailliert aufgezeigt.

Das Ergebnis war toxisch. Der Entwurf hätte nach der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesregierung (GGO) dem Bundesjustizministerium zur Prüfung seiner Verfassungsmäßigkeit und der hier gleichfalls höchst relevanten Europarechtsverträglichkeit vorgelegt werden müssen. Dies wurde unterlassen wie uns das Bundesjustizministerium selbst auf eine IFG-Anfrage bestätigte. Dieses Übergehen – hier wegen der Vorgeschichte und der finanzpolitischen Tragweite besonders gravierend - war vor allem von den beteiligten Ministern, zu vertreten. Offenbar intervenierte auch kein verantwortlicher Beamter.

Im folgenden parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren gingen anscheinend alle Beteiligten davon aus, dass der eingebrachte Entwurf regelgerecht geprüft worden war.

2. AKT: Drucksache BT 18/9690 vom 22.09.2015 (Beschlussempfehlung)

Nach über einem Jahr Gezerre im Gesetzgebungsverfahren unter Beteiligung von Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat und fünf Ausschüssen gelangte – nach einer Anmahnung des Bundesverfassungsgerichtes – der Entwurf über den Vermittlungsausschuss in den Bundestag, der das neue Gesetz beschloss. Einzig der Bundesrat hatte auf dessen wahrscheinliche Verfassungswidrigkeit hingewiesen, stimmte dann aber doch zu.

Was brachte die Neuregelung? Erstaunliches! Bis zum Jahr 2021 hat sich der steuerfrei gestellte Betrag mehr als verdoppelt, auf 37 Milliarden Euro. Die Neuregelung bewahrte dabei nicht nur die Entlastung, sondern schuf weitere Möglichkeiten der Steuervermeidung bei den großen Unternehmens-Erbschaften! Mit dem Ergebnis, dass bei den Erbschaften über 20 Millionen Euro aktuell nur noch jeder vierte Euro versteuert wird, bei jenen bis zu einer halben Millionen Euro jedoch 85% (so das Statistische Bundesamt „Finanzen und Steuern 2021“).

Möglich wurde dies durch eine extrem großzügige Grundregelung (Vergünstigungen bis in die Größenordnung von 128,5 Millionen Euro) und eine implizite gesetzliche Einladung zu noch weitergehenden „Gestaltungslösungen“ (s. Exkurs unterhalb dieses Textes), die das Bundesverfassungsgericht eigentlich nicht mehr sehen wollte.

Es hätte sich unschwer ausrechnen lassen, wozu das neue Gesetz führt und wem hier die „Verbesserungen“ zugutekommen. Das größte und teuerste Parlament der westlichen Welt mit Hunderten von Assistenten, Hiwis und wissenschaftlichem Dienst war nicht in der Lage, fundierte Szenario Rechnungen auf der Basis der Entwürfe und der allgemein bekannten Gestaltungspraxis anzustellen. Den Zahlenangaben in der Gesetzesbegründung für einen überholten Entwurf zu den Auswirkungen fehlte jede Berechnungsgrundlage. Die Verfasser hantierten mit Millionenbeträgen angesichts einer Schieflage im zweistelligen Milliardenbereich. Dem Bundestag fiel das nicht weiter auf.

Die Reaktion in der interessierten bzw. wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu dem neuen Gesetz war verheerend. Ganz überwiegend wurde das Gesetz für gleichheitswidrig gehalten. Etwas zurückhaltender reagierte die Beraterzunft, die sich sogleich ans „Gestalten“ machte. Zahl und Umfang der Schenkungen waren nach dem Karlsruher Urteil zunächst aus Sorge vor einer Verschärfung in die Höhe geschnellt. Eine Sorge, die sich als unbegründet erwies. Die neuen Regelungen waren noch „günstiger“ als die aufgehobenen. Allgemein wurde angenommen, dass sich über kurz oder lang das Bundesverfassungsgericht erneut mit der Erbschaftssteuer würde befassen müssen. Es wurde bei nächster Gelegenheit eine Vorlage gemäß Art. 100 GG vom zuständigen 2. Senat des BFH erwartet. Am 06.11.2021 war es so weit. Der BFH veröffentlichte sein Urteil in einem Revisionsverfahren gegen eine Entscheidung des FG Köln. In seiner Homepage Selbstdarstellung kündigt er freilich unverdrossen eine Befassung mit dem Thema erst „in einigen Jahren“ an.

3. AKT: BFH II R 1/19 (Urteil des Bundesfinanzhofs vom 06.05.2021)

Die Finanzgerichtsbarkeit, an deren Spitze der BFH steht sollte hohen Erwartungen entsprechen: ihre Richter sind die am höchsten bezahlten Instanzrichter in der deutschen Justiz (R 2), die „Senate“ der Finanzgerichte entscheiden mit fünf Richtern und vor der richterlichen Tätigkeit steht grundsätzlich eine längere praktische Tätigkeit in der Verwaltung; womit freilich die rigorose Leistungsauswahl wie beim Zugang zur allgemeinen Justiz vermieden wird. Mit einem Wort: sie sind privilegiert.

Das FG Köln und der BFH lehnten eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht ab. Der BFH in Anerkenntnis der „sehr großzügigen Begünstigung des Betriebsvermögens“. Die zentrale Begründung dieser Erkenntnis bestand aus einem einzigen – unlogischen - Satz. Das einschlägige Urteil des Bundesverfassungsgerichts umfasste seinerzeit 88 Seiten. Auf eine Auseinandersetzung mit den überwältigenden gegenteiligen Autorenmeinungen verzichtete das Gericht, ebenso auf eine Einbeziehung der beschriebenen sozio-ökonomischen Entwicklungen. Die Kürze des Urteils und die Schlichtheit der Begründung mögen überraschen. Kurios die Presseerklärung zu dem Urteil, in der verlautbart wurde, „ob die 2016 geänderten großzügigen Regelungen zum Erwerb von Betriebsvermögen verfassungskonform sind, spielte im Streitfall keine Rolle.“ Hat das Gericht überhaupt nicht gemerkt, was es da entschieden hatte?

Dabei irritieren einige nebenberufliche Aktivitäten der beteiligten Richter. Drei der Senatsangehörigen üben einschlägige Nebentätigkeiten aus, teilweise in einem ungewöhnlich großen Umfang. Einschlägig heißt mit thematischem Bezug zur ihrer Haupttätigkeit. Bezahlte Nebentätigkeiten von Universitäts- und Justizjuristen sind bisweilen problematisch (siehe dazu Gertrude Lübbe-Wolf und Holger Pröbstel im „Scheinwerfer“ 83 / 2019). Es besteht die Sorge, dass darunter der staatlich bezahlte Hauptberuf leidet. Äußerst problematisch sind kommerzielle Nebentätigkeiten von letztinstanzlichen Richterinnen und Richtern.

Eine rote Linie ist überschritten, wenn die Nebentätigkeiten, etwa Seminarveranstaltungen Materien betreffen, die den Betreffenden aktuell oder perspektivisch zur konkreten Entscheidung vorliegen. Zugespitzt: Kein Außenstehender und kein Prozessbeteiligter kann letztlich wissen, ob das private Referat dem staatlichen Urteil folgt oder das Urteil dem Referat. Der anwaltliche Prozessvertreter gerät im Hinblick auf die Ablehnungsoption in eine üble Lage.

Diese Senatsangehörigen fallen – neben der Verfassung von steuerlicher Kommentarliteratur – durch eine lebhafte Tätigkeit als Referentin oder Referent bei kommerziellen Seminaren auf zu exakt der Materie, die Gegenstand ihrer Urteile ist. Alles online abrufbar. Sie referieren auf Fachseminaren etwa über „Aktuelle Entwicklungen im Erbschafts- und Schenkungssteuerrecht“ (Seminarpreis 1199 Euro im Vier Jahreszeiten Kempinski München – hier erscheinen sogar zwei von ihnen).  Besonders verstörend ist der Auftritt bei Veranstaltungen im Interesse von Familienunternehmen. Also gerade der Klientel, die durch die Regelungen extrem begünstigt wird.

Eine Aufhebung der überkomplizierten Regelungen würde die Druckerzeugnisse wertlos und die Seminare weitgehend überflüssig machen. Einem außenstehenden Betrachter drängt sich der Eindruck eines Interessenkonfliktes auf. Geboten wäre gewesen, die Betroffenen hätten diesem Anschein entgegengewirkt und sich an der Entscheidung nicht beteiligt. Im Ergebnis haben Richter trotz dieser angenommenen Konfliktlage eine Frage mitentschieden, die wie keine andere immensen Einfluss auf die Vermögensverteilung und die wirtschaftliche Chancengleichheit in Deutschland hat. Dem Außenstehenden ist schwer verständlich, wie unter diesen Umständen solche Nebentätigkeitsgenehmigungen erteilt werden konnten.

Sensibel reagieren sie mitunter bei vermeintlichen Eingriffen in diese Aktivitäten. Eine BFH-Richterin klagte bis zum Bundesverfassungsgericht, nur weil sie ihre Nebentätigkeit gerichtsintern anzeigen sollte.

Die groteske deutsche Erbschaftssteuerwirklichkeit ist das Ergebnis multiplen staatlichen Versagens: Minister umgeben von willfährigen Beamten kapitulieren vor Lobbyinteressen, brechen Gesetzgebungs-Regeln; überforderte Abgeordnete winken durch und Richter mit zweifelhafter Interessenlage segnen ab.

Absehbar besteht wenig Hoffnung, dass sich an der Beflissenheit unserer Bürokratiespitzen und der geringen Sachkunde unseres Parlamentes in Finanzdingen etwas ändert.

Auch ist die Bundesrats- / Länderinitiative aus den Nullerjahren die gesamte Verwaltungsgerichtsbarkeit (allgemeine Verwaltungsgerichte, Sozialgerichte und eben Finanzgerichte) in einem einzigen Gerichtszweig zusammenzufassen (u.a. BT Ds 16/1034) leider nicht weiterverfolgt worden. Von ihr wäre eine Abbremsung der Hyperspezialisierung der genannten Gerichtszweige zu erwarten gewesen. Und – vielleicht – etwas mehr Konzentration auf den Hauptjob.

Es bleibt daher nur die Forderung nach einer überfälligen Detailmaßnahme. Verlangt werden kann und muss ein Ende der nicht rein wissenschaftlichen Nebentätigkeiten von Bundesrichtern. Ohne Wenn und Aber und ohne weitergehende Ausnahmen.

Die Richter des BFH verdienen 10.413 Euro im Monat bzw. 11.510 Euro (Vorsitzende).  Das erscheint der Aufgabe angemessen. Wer signifikant mehr Geld verdienen möchte, dem stehen stattdessen ausreichend Herausforderungen außerhalb des Justizdienstes offen. Aufstockung durch Nebentätigkeiten, die das Vertrauen in die Neutralität der Justiz untergraben, erscheint uns nicht erforderlich.

Das Verschonungsthema schafft es eher selten in die kritische Presse. Obwohl wir durchaus mutige Verlagshäuser haben. Könnte eine Rolle spielen, dass auch große Verlage Gegenstand von Vererbung und Verschonung sind?

P.S. Bei einer pauschalen Erbschaftssteuer von 12% ohne Milliardärsrabatte (Erbschaftssteuer „für alle“) wäre das Steueraufkommen genauso hoch und der horrende Bürokratieaufwand sowie die jahrzehntelangen politischen und juristischen Auseinandersetzungen hätten ein Ende.

Exkurs: Wenn ein 128 Millionen Euro Privileg nicht reicht – Gestaltungsvorschläge der Beraterzunft

Entgegen der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts blühen die „interessanten Gestaltungsvorschläge“ der Berater erst so richtig auf. BFH-Richter wirken an diesen Vorschlägen zwecks Verringerung der Steuereinnahmen emsig mit. Alle sind wörtlich den einschlägigen Quellen entnommen.

Die Zunft sieht eine „Neue Zeitrechnung in der Steuerplanung, die auf das hochkomplexe Verschonungssystem insbesondere bei Großunternehmen auszurichten ist“ (!) und breitet die Klaviatur der Möglichkeiten aus: Verwaltungsvermögen vermeiden / begünstigtes Vermögen schaffen, zum Beispiel durch Sachmitteleinlage und sofortigen Verkauf statt Bareinlage, Einbau von Holdingstrukturen, Übertragung auf gemeinnützige (!) Stiftung, Doppelstiftungsmodell, Gründung einer (auch ausländischen) Familienstiftung oder eines Familienvereins, Umgehung von Fristen – speziell der Zweijahresfrist beim Vorabschlag, Verkäufe auch „vorübergehende“ innerhalb der Familie, an Kinder, Ehegatten – sogar geschiedene Ehegatten können auftreten, Verschieben von Restmitunternehmeranteilen und Sondervermögen etc. (etc. ist wörtlich zu verstehen). Adoptionsmodelle runden das Bild ab.

Weitere Ansatzpunkte sind: Die unentgeltliche Übertragung gerade auf minderjährige oder vermögenslose Kinder oder Ehegatten – ggf für kurze Zeiträume um Fristen auszubremsen, Nießbrauchsübertragungen, aber auch Verzicht auf Nießbrauchsrechte, Schenkungen mit Nießbrauchsvorbehalt. Hier wird allerdings „besondere Sorgfalt“ empfohlen. Grund für diese Warnung ist das Urteil eines anderen Senates (IV.), der die Großzügigkeit des II. Senates nicht begleiten wollte.

Weiter geht es mit Schenkungen mit der Maßgabe, dass der Schenker einen „Zwerganteil“ behält, Kettenschenkungen, Gestaltungen zum Erhalt der einkommensteuerrechtlichen Mitunternehmerstellung beim Schenker (der Mitunternehmer verdoppelt sich gleichsam) und „unterquotalen Schenkungen“.

Zum Absenken der Ausgangslohnsumme: Einsatz von „Lohnsummenblockergesellschaften“, Austausch von Arbeitnehmern durch Leiharbeitnehmer sowie die Verlagerung von Arbeitsplätzen auf Drittlandsgesellschaften. Wohlgemerkt bei einem Gesetzesprivileg, das mit Arbeitsplatzerhaltung in Deutschland gerechtfertigt wird.

Landwirten wird die Einbringung des Bauernhofes in eine gewerblich geprägte GmbH & Co KG empfohlen. Auch Ratschläge zum Schutz der Oldtimersammlung und anderer Luxusgüter vor fiskalischem Zugriff sind wohlfeil.

Bei den „Erweiterungen“ von § 28 a ErbStG (Verschonung von Großerwerben ab 26 Millionen Euro) ab ist die Kreation von „künstlichen“ Erwerbern wie Familienstiftungen besonders beliebt. Diese besitzen am besten wenig bis gar kein verfügbares Vermögen. Der Gesetzgeber nennt das „Verschonungsbedarfsprüfung“. Ganz offiziell ist ihnen folgerichtig gemäß den Erbschaftsteuerrichtlinien die Steuer auf Antrag (vollständig) zu erlassen.

Zu den Autoren

Heinrich Fischwasser war von 2018 bis 2021 Leiter der RG Rhein-Main.

Gundula Schmitt ist Rechtsanwältin in Frankfurt und vertritt derzeit die Problematik in einem ähnlichen Fall vor dem Bundesverfassungsgericht.