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Der Rechtsstaat in Gefahr?

Ruin des Rechtsstaats in der Türkei, fortgeschrittene Demontage in Polen und Ungarn. In Deutschland gesunkenes Vertrauen in die staatlichen Institutionen und ein zunehmend polarisiertes Klima der öffentlichen Auseinandersetzung. Ist der Rechtsstaat auch bei uns in Gefahr?

Von Gertrude Lübbe-Wolff

Betrachten wir die Justiz. Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Leistungsfähigkeit der Justiz sind die wichtigsten Voraussetzungen
einer Ordnung, in der demokratisch beschlossene Gesetze statt der Willkür von Machthabern in Politik und Wirtschaft herrschen. Nicht zufällig wird da, wo die freiheitliche Demokratie außer Kraft gesetzt werden soll, die Axt meist zuerst an die Unabhängigkeit der Justiz gelegt. Zu allererst gerät das jeweilige Verfassungsgericht ins Visier.

Für die Befürchtung, dass so etwas auch in Deutschland drohen könnte, gibt es einstweilen keinen konkreten Anlass. Das Bundesverfassungsgericht ist das populärste Gericht der Welt. In Deutschland ist es, wie amerikanische Forscher schon vor zwanzig Jahren herausgefunden haben, bekannter als jedes andere Höchstgericht der Welt bei den Bürgern des jeweiligen Landes. Und bei der großen Mehrheit der Bürger genießt es mit Recht hohes Vertrauen.

Im internationalen Vergleich stehen auch die anderen deutschen Gerichte gut da, und das nicht nur wegen der relativ guten Qualität der deutschen Juristenausbildung. Das Wichtigste: Die Richter sind unabhängig, sie sind nicht korrupt, und sie sind in aller Regel so unparteiisch, wie sie sein sollten. Das ist keine Selbstverständlichkeit, und auch wo es einmal so ist, muss es nicht so bleiben. Integrität und innere Unabhängigkeit brauchen umso mehr institutionellen Rückhalt, je größer die Versuchungen für Korruption oder Betrug sind.

Richterinnen und Richter müssen Nebeneinkünfte offenlegen

Unter anderem deshalb sollte (auch) für Richter gelten, dass  Nebeneinkünfte offenzulegen sind. Richterliche Nebenverdienste sind nichts per se Verdächtiges. Manche Richter haben zum Beispiel nicht unerhebliche Einnahmen als Autor oder Herausgeber juristischer Standardwerke. Daran ist nichts auszusetzen. Aber wenn Richter hohe Honorare für bescheidene Vortrags- und Fortbildungstätigkeiten in Kreisen einnehmen, die Interesse an den von ihnen zu entscheidenden offenen Rechtsfragen haben, zum Beispiel im Banken- oder im Versicherungssektor, dann ist das ein Problem. Die Wahrung der notwendigen Grenzen kann und muss hier durch Transparenz unterstützt werden.

Auch wenn die deutsche Justiz integer dasteht: Einschränkungen ihrer Leistungsfähigkeit, die geeignet sind, das Vertrauen in den Rechtsstaat zu untergraben, sind in den  zurückliegenden Jahren immer deutlicher geworden.

Kapazitätsengpässe können Integrität und Leistungsfähigkeit untergraben

Immer wieder einmal müssen mutmaßliche gefährliche Straftäter aus der Untersuchungshaft entlassen oder für schuldig Befundene mit Strafrabatten entschädigt werden, weil es nicht gelungen ist, das gerichtliche Verfahren rechtzeitig in Gang zu setzen oder abzuschließen. Strafverfahren werden in großer Zahl eingestellt oder Ermittlungen erst gar nicht eingeleitet, weil es bei Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten an Personal fehlt. Von Zivilrichtern ist zu hören und in Leitfäden für Zivilrichter nachzulesen, wie wichtig gütliche Einigungen zwischen den Prozessparteien sind — weil sich nur so die Verfahrenslasten bewältigen lassen — und wie man auf solche sogenannten Vergleiche hinwirkt. Ein Urteil, das die geltenden Regeln und Verantwortlichkeiten klarstellt, Fehlverhalten von Bürgern oder Unternehmen klar benennt, die Betroffenen schadlos stellt und so zur Erhaltung guter Sitten beiträgt, muss dann nicht geschrieben werden. Ungeachtet solcher und ähnlicher Entlastungsstrategien kommt es bei vielen Gerichten zu einem Rückstau an Altverfahren.

Die Probleme sind im Prinzip bekannt. Der Koalitionsvertrag für die laufende Legislaturperiode hat darauf mit einem „Pakt für den Rechtsstaat“ reagiert. Unter anderem soll es 15.000 neue Stellen für die Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern geben, 2.000 neue Stellen in der Justiz, konsequente Digitalisierung, neues Sanktionsrecht für Unternehmen, eine Stärkung der Verbraucherrechte mittels Musterfeststellungsklage, und überhaupt eine „bessere und schnellere Rechtsdurchsetzung“. Mehr Personal, das ist schön und gut und zur akuten Problemdämpfung unentbehrlich. Es muss daneben aber auch verstärkt darüber nachgedacht werden, wie sich die Effizienz der eingesetzten personellen und sonstigen Mittel steigern lässt. Die Richterdichte ist in Deutschland, verglichen mit allen anderen westeuropäischen Ländern, fast konkurrenzlos hoch (24 je 100.000 Einwohner; nur in Luxemburg liegt sie noch höher). 

„Konsequente Digitalisierung“, wie sie der Koalitionsvertrag verspricht, hat schon lange vor ihrer Vollendung viel Geld gekostet, macht bislang allerdings nach allem, was ich von Justizangehörigen aus unterschiedlichen Bundesländern höre, den Gerichten mehr zusätzliche Mühe, als dass sie Entlastung brächte. Was auch immer man sich hier für die Zukunft erwartet: Nötig sind neben ausreichender Ausstattung der Justiz mit technischen Arbeitsmitteln aller Art, zu denen auch Bücher und breiter Zugang zu juristischen Datenbanken gehören, auch Vereinfachungen des Rechts, besonders solche, die den hohen Aufwand der Tatsachenfeststellung reduzieren, und andere Erleichterungen nachdrücklicher Rechtsdurchsetzung.

Unternehmensstrafrecht und Whistleblower-Schutz

Im Strafverfahren ist unter anderem der systemische Fehlanreiz für Anwälte zu beseitigen, gerade komplexe Verfahren unnötig in die Länge zu ziehen, weil bei überlanger Verfahrensdauer Strafnachlässe winken. Materiell müssen Sanktionen in präventionswirksamer Höhe und Konsequenz verhängt werden. Das gilt auch für die Sanktionierung von Unternehmen. Die derzeit geplante Verschärfung der Bußgeldandrohungen im Ordnungswidrigkeitenrecht ist richtig, aber nicht ausreichend. Strafbares Verhalten im Unternehmensbereich, dessen Ursachen für den Nachweis individueller Verantwortung zu diffus verteilt sind, kann nur mit einem Unternehmensstrafrecht sachgerecht und ausreichend wirksam beantwortet werden. Korrekturen sind auch nötig, wo überzogener Datenschutz, überzogener Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen und unzureichender Schutz von Whistleblowern die Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten erschweren.

Die im Koalitionsvertrag angekündigte Stärkung der Verbraucherrechte ist besonders dort bitter nötig, wo Unternehmen davon profitieren, manchmal sogar gezielt darauf setzen, dass bei massenhaften Schlechtleistungen und Betrügereien letztlich nur ein kleiner Teil der geschädigten Kunden das Risiko und die Mühe auf sich nimmt, ihre Ansprüche im Klageweg zu verfolgen. Die auf dem Hintergrund des Dieselskandals eingeführte Musterfeststellungsklage löst die Probleme effektiver Rechtsdurchsetzung für solche Konstellationen nur unzureichend. Sie hat zwar eine verjährungshemmende Wirkung und eine begrenzte Bindungswirkung, löst aber unter anderem die Finanzierungsprobleme nur unzureichend und erspart den Geschädigten nicht die individuelle Durchsetzung ihrer Ansprüche. Damit trägt sie auch zur Entlastung der Gerichte nicht ausreichend bei.

Funktionsdefizite erkennen und beheben

Der Kampf ums Recht, so lehrte der große Jurist Rudolf Jhering, ist niemals endgültig gewonnen. Richtig. Den Rechtsstaat in seinem unschätzbaren Wert zu begreifen und anderen begreiflich zu machen, ihn auf neue Gegebenheiten einzustellen, Funktionsdefizite zu erkennen und zu beheben und dabei niemals das Kind mit dem Bade auszuschütten, erfordert immer neue Arbeit und Mühe. Die Herausforderungen durch Europäisierung und Globalisierung über Europa hinaus machen das nicht einfacher. Um diesen Herausforderungen zu begegnen und den zerstörerischen großen Vereinfachungen zu widerstehen, sind wir aber in Deutschland noch vergleichsweise gut gerüstet.

Gertrude Lübbe-Wolff ist Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld und war von 2002 bis 2014 Richterin am Bundesverfassungsgericht. Sie ist Mitglied im Beirat von Transparency Deutschland.