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Aus Fehlern lernen

S 21 – ein Lehrbeispiel für die Folgen fehlender Transparenz

Kommentar von Hartmut Bäumer

„Erneute Kostensteigerung um 1,1 Milliarden Euro, Fertigstellung des unterirdischen Bahnhofs S 21 in Stuttgart erst Ende 2024 zu erwarten“, so lief es Ende November über den Ticker.

Überraschend ist das für Insider nicht. Eine breite Öffentlichkeit fühlt sich getäuscht. Von Anfang an fehlte es an der notwendigen Transparenz im Verfahren. Im Gegenteil, es gab auf allen Ebenen, der beteiligten Politik auf Bundes- und Landesebene, der Deutschen Bahn und einzelner Behörden eine Taktik des Verschweigens und Herunterredens von Fakten und Risiken. Genau diese Haltung ist es, die grundsätzlich zu kritisieren ist, ganz gleich, wie man dem Projekt nun gegenüber steht. Denn die Bereitschaft, die Öffentlichkeit unwissend zu halten oder gar bewusst in die Irre zu führen, unterminiert das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat und gefährdet damit das Fundament unserer demokratischen Ordnung.

Es fing bereits sehr früh an: Als die Deutsche Bahn an die damalige Landesregierung in Stuttgart meldete, dass ein Kostenrahmen von 2,8 oder auch 3,1 Milliarden Euro nicht realistisch sei, blieb diese Meldung auf Veranlassung des damaligen Ministerpräsidenten in der Schublade. Man wollte das Projekt unbedingt und fürchtete eine neue politische Debatte. In den Folgejahren behalf man sich nach außen mit Schönrechnereien. Damals sagten allerdings unbeteiligte Gutachter voraus, dass selbst der nunmehr angepeilte Kostenrahmen von 4,5 Milliarden Euro gerissen werde und eher ein Kostenrahmen von 6,5 Milliarden Euro realistisch sei. Aber nicht nur sie, auch der Chef der Stuttgarter Projektleitung und Baustelle wies im Jahre 2009/2010 darauf hin, dass die Kosten realistisch über 6 Milliarden Euro lägen. Er wurde vom damals verantwortlichen Infrastrukturchef der Bahn zum Schweigen verdonnert und verlor letztlich seinen Posten.

Das kollektive Verschweigen nahm mit dem Regierungswechsel 2011 eine neue Dimension an. In der neuen Koalition aus Grünen und SPD setzte letztere als Baubefürworterin durch, dass das zuständige Landesverkehrsministerium eigene Erkenntnisse über die voraussichtlichen Kostenentwicklungen und die Bauzeiten nicht offensiv in die Debatten einbringen durfte. Hintergrund war neben dem Volksentscheid auch eine juristische Hürde: Der Bau war rechtlich nur dann zu halten, wenn das Kosten-Nutzen-Verhältnis einen bestimmten Quotienten nicht überstieg. Diese Hürde war mit der realistischerweise zu erwartenden Kostenentwicklung nicht mehr zu halten.

Den Höhepunkt dieser Taktik stellte ein von der Bahn in Auftrag gegebenes Gutachten von PricewaterhouseCooper dar. Es bezifferte die Kosten im Falle des Projektabbruchs mit zusätzlichen 1,6 Milliarden Euro, weshalb der Weiterbau auch ökonomisch die sinnvollste Lösung sei. Genau dieses Gutachten – dessen Validität von anderen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften aufgrund eigener Untersuchungen erheblich bezweifelt wurde – bewirkte, dass der Bahn-Aufsichtsrat 2013 letztlich einer erneuten Kostensteigerung bis zu 6,8 Milliarden Euro zustimmte.

Wie bekannt, hat sich das Volk bei dem Volksentscheid im Herbst 2011 mehrheitlich für den Weiterbau ausgesprochen. Ob die Entscheidung anders ausgefallen wäre, wenn transparent mit den vorliegenden Zahlen umgegangen worden wäre, lässt sich nicht beantworten. Die nachträgliche Erkenntnis, als Bürger nicht ehrlich informiert worden zu sein, hinterlässt mehr als einen faden Beigeschmack. Faktisch läuft das Verhalten der Verantwortlichen in Politik und bei der Bahn auf eine Entmündigung der Bürgerinnen und Bürger hinaus. Genau dies wiederum führt zu den bekannten Phänomen wie Politikverdrossenheit und Wutbürgertum mit dem Risiko des Abdriftens in extreme Haltungen.

S 21 ist für diese der Demokratie abträgliche Haltung ein Beispiel, das leider nicht alleine steht. Ob Bankenkrise, Dieselgate oder BER, alle gemeinsam zeigen: Das Fehlen von Transparenz und offener Debatte mit der Gesellschaft, man kann auch sagen, die Angst der Entscheider vor dem Souverän, führt letztlich zu Entwicklungen, die nicht nur Milliarden an Mehrkosten für die Steuerzahler bedeuten, sondern auch das Vertrauen in den Staat unterminieren.

Was ist zu tun, um solche Entwicklungen in Zukunft weniger wahrscheinlich zu machen?

Um dieses Frage zu beantworten, bedarf es zunächst eines Blicks auf die vorhandenen Kontrollmöglichkeiten in Staat und Gesellschaft. Warum haben sie hier nicht gegriffen – oder, wie sich zeigen wird, zu spät gegriffen?

Zunächst ein Blick auf die vierte Gewalt, die Presse: Sie war von Anfang Teil des „politischen Spiels“. Es gab, vor allem in Baden-Württemberg, klare Vorfestlegungen bestimmter Presseorgane insgesamt und bestimmter Personen in den Häusern. Im Klartext: Befürworter des Projekts und Gegner. Während erstere (die Mehrzahl) sich auf die Zahlen und politischen Aussagen von Bahn und CDU/SPD-Politikern verließen, versuchten die anderen, ein Gegengewicht zu organisieren, was auch innerhalb der Häuser zu kontroversen Debatten führte. Im Ergebnis waren aber alle Presseleute mangels valider und transparenter Daten auf die einzig „akzeptierten“ Werte der Bahn angewiesen, die wiederum politisch das umsetzte, was von den befürwortenden Parteien gewünscht worden war. Soweit einzelne Organe oder Journalisten sich auf alternative Erkenntnisquellen wie zum Beispiel die Gutachten von Vieregg-Rössler stützten, wurden sie „von oben“ kritisiert. Die Richtigkeit dieser Gutachten bewahrheitet sich jetzt allerdings zunehmend.

Wie ist es mit den im System eingebauten Kontrollmechanismen Justiz, Rechnungshof, Eisenbahnbundesamt?

Dazu gibt es keine einfache Antwort.

Was die Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit angeht, ist festzustellen, dass die Vertragssituation zwischen Deutscher Bahn, Bund und Land so zugeschnürt ist, dass es zumindest zivilrechtlich wenig Möglichkeiten gab, für mehr Transparenz zu sorgen. Im verwaltungsgerichtlichen Bereich liegt die Sache insofern komplizierter, als es dort bei einigen der angestrengten Verfahren genau auf die bewusst nicht offen gelegten Fakten ankam. Ob nach dem Amtsermittlungsgrundsatz in diesen Verfahren mehr hätte erforscht werden müssen oder sollen, bleibt unbeantwortet. Geschehen ist es jedenfalls nicht.

Interessanter in unserem Zusammenhang ist die Betrachtung des Bundesverfassungsgerichts. Ihm lag seit 2010 eine Organklage der Grünen Bundestagsfraktion vor, mit der diese durchsetzen wollte, genauere Informationen auch zur Finanzierung des Projekts S 21 von der Bahn als hundertprozentiger Tochter des Bundes zu erhalten. Diese Informationen wurden unter anderem mit dem Hinweis auf die privatrechtliche Struktur der Deutschen Bahn und von Geschäftsgeheimnissen verweigert. Seit diesem Jahr wissen wir, zu Unrecht!

Nach mehr als sechs Jahren hat das Bundesverfassungsgericht den Grünen Recht gegeben. Immerhin, mag man sagen. Doch für die Entscheidung über die Umsetzung des Projekts S 21 eindeutig zu spät. Es ist bekannt, dass beim Verfassungsgericht sehr viele Verfahren anhängig sind. Ob das aber die Vertagung um sechs Jahre rechtfertigt, darf immerhin in Zweifel gezogen werden: Handelte es sich doch nach dem Urteilswortlaut um eine klare und eindeutige Rechtslage. Unzweifelhaft hätte eine frühere Entscheidung zu erheblich mehr Transparenz beigetragen und dem Rechtsstaat und seiner Akzeptanz erheblich genutzt.

Ganz ähnlich verhält es sich mit den Rechnungshöfen. Während der Rechnungshof in Baden-Württemberg sich bis vor wenigen Jahren überhaupt weigerte, tätig zu werden, ermittelte der Bundesrechnungshof seit etwa 2011/12. Er kam zu einem Ergebnis, welches sich mit den neueren gutachterlichen Erhebungen von Vieregg-Rössler weitgehend deckt und wonach Gesamtkosten von zehn Milliarden Euro zu befürchten seien. Der Bericht des Bundesrechnungshofes wurde aber erst 2016 öffentlich gemacht – zu einer Zeit, als es faktisch kein Zurück mehr gab. Intern lagen die wichtigsten Zahlen bereits einige Jahre früher vor. Warum die Veröffentlichung so spät erfolgte, darf sich jedermann/frau selbst erklären.

Was das Eisenbahnbundesamt angeht, so hatte dieses in seiner Zwitterposition zwischen Erfüllungsgehilfe der Deutschen Bahn und Kontrollinstanz mit den eigentlichen Finanzfragen direkt nichts zu tun, wohl aber hätte es wegen einer fehlenden rechtlich haltbaren Kosten-Nutzen-Relation Genehmigungen verweigern können. Dazu fehlten ihm transparente Informationen, es stützte sich anscheinend allein auf die Zahlen der Bahn. Hinsichtlich der Sicherheitstechnik, die im Zusammenhang mit dem Eröffnungszeitpunkt zu sehen ist, hat das Eisenbahnbundesamt Bedenken geltend gemacht, von denen einige offensichtlich noch immer nicht ausgeräumt sind. Auch das bleibt intransparent und für die Allgemeinheit im Unklaren.

Insgesamt liegt es auf der Hand, dass mehr Transparenz nicht nur genutzt hätte, sondern die erste und notwendige Voraussetzung für Vertrauen und Akzeptanz in der Bevölkerung ist. Dabei ist nicht auszuschließen, dass auch bei transparenter Vorgehensweise das Projekt von der Mehrheit der Bevölkerung befürwortet worden wäre. Dann aber – wie etwa in der Schweiz beim Gotthardtunnel und anderen Projekten – ohne Vertrauensverlust in den Rechtsstaat und seine Institutionen.

Nötig ist ein Bewusstseinswandel auf allen Ebenen. Es müssen rechtliche Bedingungen geschaffen werden, die eine dauerhafte Desinformation und Intransparenz verhindern.

Dazu gehören Offenlegungspflichten im Sinne eines Transparenzgesetzes, das vorschreibt, Unterlagen und Informationen bei staatlichen Behörden und staatlich dominierten privaten Gesellschaften von vornherein offenzulegen und das freien Informationszugang garantiert. Dazu gehört der exekutive und legislative Fußabdruck, mit dem die Einflussnahme von außen auf politische Entscheidungen nachvollziehbar gemacht wird. Und dazu gehören nicht zuletzt ein wirksamer Schutz von Hinweisgebern sowie die gesetzliche Einschränkung der Möglichkeiten, sich auf Geschäftsgeheimnisse zu berufen.

Wie heißt es bei Goyas berühmtem Bild? „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.“ Nutzen wir in Zukunft unsere Vernunft zum Schutz des Rechtsstaats. Das Infragestellen demokratischer Institutionen von weit rechts nährt sich auch aus dem fehlenden Mut zur Offenheit und Klarheit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern durch die jeweils verantwortlichen Handelnden in staatlichen und privaten Institutionen.

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